Wie würde ein Ethnologe aus der Zukunft auf die heutige Zeit schauen? In einem Gedankenexperiment deutet er vielleicht unsere heutige „rationale“ Welt als das dunkle Zeitalter, als die Menschheit sich einer unbewussten Gottesprojektion, dem Gelde, unterwarf. Ein Zeitgenosse konnte das Paradigma seines irrationalen Weltbildes jedoch kaum wahrnehmen.
von Yoshi Frey
Es war einmal eine Zeit, in welcher sich das ganze geistige Universum der Menschheit um einen Fixpunkt drehte. Es war der Gott jener Zeit. Jeder betete ihn an. Die Menschen gingen täglich in seine Tempel. Die beamteten Politiker beteten seine Macht an und die Menschen befolgten den Anweisungen der Priester, die ihm dienten, und die die eigentliche Macht hatten. Das Verrückteste war, dass die Menschen und besonders natürlich die Priester, sich selbst und ihren Gläubigen den Glauben schenkten, dass der ganze Kult, der ihre Welt vollkommen beherrschte, rational und also vernünftig sei. Aus der heutigen Rückschau erscheint uns das absurd. Aber damals lebte die ganze Menschheit im Irrglauben, sie lebten in keinem Glauben. Sie gaben darum ihrem Gott lieber den Namen „Geld“.
Nun, das war natürlich ein ganz raffinierter Glaube. Das wurde ganz schnell deutlich, wenn es Leute gab, die ketzerische Ideen hatten und den herrschenden Glauben in Frage stellten. Sie durchschauten, dass ihre Kultur in einem unbewussten Glauben an das Geld verloren war, der das Denken und Handeln aller so sehr durchdrang, dass ihre Zeitgenossen es nicht mehr wahrnehmen konnten. Diese Leute waren nicht zu beneiden. Sie waren wie Fische, die an einen einsamen Strand angespült waren. Wie sollten sie ihren Zeitgenossen erklären, was denn das Wasser sei? Wer den Glauben an den Gott jener Zeit in Frage stellte, wurde für verrückt erklärt. Man war ein Ketzer oder Konspirationstheoretiker, einer der über Dinge sprach, die nicht wahr sein konnten, weil sie nicht wahr sein durften. Jedenfalls jemand, vor dem man sich in Acht nehmen sollte. Die herrschenden Priester dieses Gottes waren ausserdem sehr darauf bedacht, dass der Glaube an ihren Gott nicht in Frage gestellt wurde. Denn dies bedrohte ihre ungeheure Macht über den Geist der Gläubigen.
Einige wagten dennoch zu sagen:„Schaut doch, der Gott, den ihr anbetet und dem ihr eurer Leben schenkt – er ist nur eine Illusion, eine gesellschaftliche Wahnidee. Die Priester bekommen Macht und Reichtum nur durch euren irrtümlichen Glauben an die Realität dieser Illusion. Diesen Gott gibt es gar nicht- er ist nur eingebildet. Ihr seid eigentlich alle frei. Wir könnten eine bessere Welt errichten, wenn wir unseren Geist nur vom Glauben an ihn befreien“. Dazu lachten die Zeitgenossen nur. „Irrationaler Spinner“, dachten sie. Sie fühlten sich letztlich bedroht. Denn es war so, dass dieser Gott und seine Priester die Welt am Laufen hielten. Ohne ihre Erlaubnis lief nichts, alles stand still, Armut und Elend drohten, wenn sie es so wollten. Die Menschen waren wie gelähmt, wenn er seinen „Segen“ von den Menschen nahm. Damit war gemeint, dass die Priester, die die Tauschmittel kontrollierten, die Wirtschaft damit zum Stillstand bringen konnten. Diesen Gott in Frage zu stellen, war darum damals sehr gefährlich. Wer den Glauben an den Gott Mammon verlor, der riskierte sein Einkommen und riskierte das tägliche Überleben – so wurde von den Priestern behauptet – und sie konnten ihre Drohung wahr machen. Jedes Opfer an diesen Gott und seine Priester sei darum gerechtfertigt, denn sonst bricht Unordnung über die Welt herein. Und die Menschen in dieser geistig dunklen Zeit, glaubten diesen Unsinn tatsächlich.
Und überhaupt, der Mensch jener Zeit war so sehr mit dem Dienst an diesen Gott beschäftigt, dass ein Nachdenken nicht mehr möglich war. In der freien Zeit wurde der Geist mit Träumen gefüttert und allseitige Zerstreuungen lenkten die Menschen davon ab, zu erkennen, wie unfrei sie waren. Auf eine erstaunliche Weise liebten sie ihr mentales Gefängnis sogar. Es gab ihnen Sicherheit und Geborgenheit, Richtung und Aufgaben. Sie schufteten bis zum Umfallen, viele wurden krank, der Leistungsdruck für die Opferforderungen an diesen Gott und an die Priesterschaft wurde immer stärker. Genauer gesagt, so wuchs dieser Leistungsdruck lawinenartig an: Das hing mit der raffinierten Konstruktion der Religion und des Opferdienstes zusammen. Aber sowohl die Führer und Wissenschaftler jener Zeit waren genauso wie die meisten Menschen treue Gläubige – und so arbeiteten sie mehr und mehr für den Dienst an diesen Gott.
Das war das Glaubensbekenntnis jener Zeit: Wachstum, Wachstum, Wachstum und das hiess übersetzt: Immer mehr arbeiten für den Gott jener Zeit. Wer dieses Paradigma in Frage stellte, war ein Nestbeschmutzer, ein Ketzer und sonst irgendwie gefährlich. Wie sonst könnte man denn die wuchernden Leistungsforderungen des herrschenden und Gottes jener Zeit befriedigen? Götter sind unendlich aber jener Gott, an den die Menschen damals glaubten, er war unermesslich gierig. Er war nie zufrieden mit den Opfergaben. Je mehr er bekam, desto mehr wollte er haben.
Die allumfassende Macht des Gottes jener Zeit forderte eine ständige Steigerung der Opfergaben, die Menschen mussten um jeden Preis mehr und mehr leisten, aber auch mehr und mehr konsumieren. Beides gehörte zusammen. Das hielt die Menschen beschäftigt und darum kontrollierbar. Darum waren ja auch die, die konsumieren durften, treue Anhänger der damaligen Religion. Und besonders waren die Priester Nutzniesser des Systems und daher schon ganz natürliche Anhänger. Die grosse Masse aber, sie arbeitete und verstand nicht, was geschah. Ihnen wurde gesagt, dass nur treuer Fleiss im Zeichen des gütigen und strengen Herrn ihnen Vergebung ihrer Schulden und sündhaft teure Fetische des herrschenden Gottes bringen würde. Und nur dann, so wurde ihnen eingetrichtert, wären sie in ihrer Glaubensgemeinschaft sozial anerkannt. Nur wer glaubt, wird selig. Und so schufteten sie, denn nur wer glaubte, ward selig- so glaubten sie.
„Irrlehren“, d.h. Kritik, die diesen Gott in Frage stellten, musste man am besten ignorieren. Das war die beste Methode. Jede offene Argumentation würde nämlich die Festigkeit der Gläubigen in die Allmacht und die durchdringende Wahrheit dieser Religion in Frage stellen. Am besten, man dachte gar nicht, sondern konsumierte und arbeitete. Allein der Gedanke, dass ihr Geld-Gott vielleicht nur ein Glauben war, war gefährlich. Seine Macht war nämlich am stärksten, wenn sie nicht ins Bewusstsein kam. Es reichte, wenn sein Geist das Leben und Denken der Menschen durchdrang, wie Wasser Fische. Sich des herrschenden Paradigmas überhaupt bewusst zu werden, hiesse ja schon, nicht mehr länger damit identifiziert zu sein. Und das war gemeingefährlich. Und so entschied man sich, jegliche Kritiker des damaligen Glaubens einfach, wenn es irgendwie ging, zu ignorieren. Denn das, was nicht wahr genommen wurde, existierte auch nicht im Geiste. Das wusste man damals schon.
Es war auch nicht besonders schwierig, diese Mauer der Ignoranz aufrecht zu erhalten. Die Menschen funktionieren nun einmal so: sie wollen die Ordnung, in der sie aufgewachsen sind, um jeden Preis aufrecht erhalten. Sie ist Teil ihrer Identität. Ein Weltbild, das zusammenbricht, ist darum ein Schock für die Identität. Stellen Sie sich vor, welch ein Schock es für die Menschen im Mittelalter war, zu erfahren, dass die Erde nicht im Zentrum des Universums stand?
Die Menschen jener Zeit, über die wir hier schreiben, standen unmittelbar vor einem ähnlichen Schock. Sie fühlten, dass er kommen würde. Die Paradigmen ihrer Weltordnung stimmten schon lange nicht mehr überein mit Beobachtungen in der Wirklichkeit: Das ständige Wachstum, das ihr Gott forderte brachte nicht mehr Glück und Wohlstand, so wie ihre Priester unermüdlich fortsetzten zu beteuern. Der Reichtum der Menschen sammelte sich zunehmend bei der immer mächtigeren Priesterkaste. Mehr und mehr Menschen begannen darum, die Macht der Priesterklasse in Frage zu stellen. Der Wachstumszwang des damals herrschenden Glaubens zerstörte in gefährlichem Masse die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten. Die Unternehmen, die weitgehend in den Händen der Priesterklasse waren, verseuchten Meere, Flüsse und die Atmosphäre – alles nur um ihrem Gott zu dienen, denn er verlangte schnelles Wachstum und kurzsichtige Gewinne.
Ich weiss, heutzutage ist für uns solch ein Irrsinn schwer vorstellbar. Doch wir haben heute, drei Generationen und hundert Jahre nach dem Ende dieser wahnwitzigen Epoche, immer noch unter den Folgen dieser selbstzerstörerischen Episode aus der Geschichte der Menschheit zu leiden. Viele wünschen, es hätte damals mehr Leute gegeben, die diesem Wahnsinn schon früher ein Ende setzten.
Wie brach nun dieses Glaubensimperium des Gottes Mammon zusammen, fragen wir uns heute? Wir können nur spekulieren. Es brach vermutlich, wie jede andere Religion, an ihren eigenen Lügen zusammen: Die Menschen hörten auf, an die falschen Versprechungen auf das Glück, das niemals kam, zu glauben. Die Versprechungen der Priester erwiesen sich als Täuschungen für die Errichtung eines gesellschaftlichen Betrugsmodells, das ihnen unermesslichen Reichtum und Macht bescherte. Es waren Verführungen, durch die Menschen ihnen die Macht übertrugen. Diesen Gott, Geld, wie jeden Gott, gab es eigentlich nie. Er spiegelte auf tieferer Ebene nur die nicht integrierten Bewusstseinsinhalte der Menschen, d.h. den kollektiven Schatten, der sich damals in einer selbstzerstörerischen Projektion manifestierte.
Sobald die Menschen dies erkannt hatten, sahen sie, dass die Macht schon immer in ihren Händen war. Die Priester und der Gott, dem sie dienten, waren „nur“ Früchte einer kollektiven Unbewusstheit, die sich als Machtstruktur spiegelte. Das Geld war eigentlich eine unbewusste Schuldanerkennung. Das war der ganze Trick an der damaligen Illusion. Schuld ist Verantwortung mit einem Urteil. Ohne Urteil, war da nur noch die Verantwortung. Sobald Verantwortung übernommen wurde, herrschte Bewusstheit und die Menschen konnten sich aus dem Banne ihrer Gottesprojektionen befreien. Dies war natürlich ein schwieriger historischer Prozess. Viele wollten an ihrem alten Weltbild und ihren Privilegien festhalten. Immer mehr aber erkannten die Notwendigkeit, Verantwortung für sich und ihre Welt zu übernehmenDie gläubigen Schuldner: Die spirituellen Gründe des Geldwahns.
Letztlich war die Kraft zur Heilung, Reifung und Transformation des menschlichen Bewusstseins grösser als der Wunsch, an alten, unbewussten und selbstzerstörerischen Mustern festzuhalten. Es wurde deutlich, dass ein Überleben nur in einer liebevollen Beziehung mit uns, unseren Nächsten und mit diesem vor Schönheit strotzenden Planeten zu finden war.