Dr. Paul C. Martin hielt Anfang Juni 2003 an der TU Darmstadt auf Einladung des Börsenclubs einen Vortrag unter dem Titel: “Kommt die große Deflation? Das Staatsfinanzsystem in der Krise”. Der Vortrag in Stichpunkten.
1. Die Krise des weltweiten Staatsfinanzsystems ist offenkundig. Der Staatsbankrott ist unabwendbar, da die Zuwachsrate der Staatsverschuldung über der des BIP liegt, die Zinsen aus der Staatsverschuldung jedoch nur aus Abforderung aus dem BIP beglichen werden können. (Lüftl-Formel)
2. Historische Staatsbankrotte. Wichtig: Immer nur in etwas möglich gewesen, was der jeweilige Staat selbst herzustellen bzw. zu verschlechtern nicht in der Lage war. Rom (Gallienus), Frankreich 1788 (Silber-Livre), Dollar bzw. Gold in den 30er Jahren. Argentinien aktuell.
3. Novum und Grundthese: Ist ein Staat in eigener Währung verschuldet und muss er über den Kapitalmarkt, kommt es zur deflationären Depression (Notenbank kauft dem Publikum die Anleihen ab, führt zum Nullzins und zur Liquiditätsfalle). Kann er direkt auf die Notenbank ziehen, kommt es zur Hyperinflation, da der Staat an die Notenbank keinen Zins bezahlen muss bzw. kann, so dass zum Schluss gleich unverzinsliche Titel an die Notenbank gegeben werden.
4. In beiden Fällen (Bankrott durch Entzug der Besteuerungsbasis) bzw. Bankrott durch Repudiation = Zurückweisung des Staatsgeldes) ist der Schuldenstand des Staates am Tag des Bankrotts am Höchsten. Eine “Entschuldung” des Staates durch Inflation ist per se unmöglich. Siehe Reichsbank-Ausweis 1923.
5. Aktuelle Lage in der BRD: Im 1. Quartal 2003 mehr Schulden (plus kassiertem Bundesbank-“Gewinn”) als an Lohn- und vor allem an Umsatzsteuer eingekommen ist (“Finanzierungssaldo”).
6. Der Staat bilanziert nicht. Würde er bilanzieren, wäre seine Insolvenz unschwer erkennbar. Seine Verpflichtungen aus Schulden plus Pensions- und Rentenverpflichtungen (abgezinst) liegen bereits beim ca. Zehnfachen des jährlichen Steueraufkommens. Indem sich der Staat verschuldet, diskontiert er immer künftige Steuereinnahmen.
7. Die Schuldenaufnahmeregelung des GG (Art. 115) ist Augenwischerei, da der Staat mit seiner kameralistischen Buchführung nicht die Abschreibungen der Folgejahre über thesaurierte Steuereinnahmen berücksichtigt. So werden zum Schluss immer dieselben Investitionen (Straßen, Gebäude) getätigt und nicht etwa zusätzliche. Der Verfall der gesamten Infrastruktur ist die logische Folge.
8. Verrentungseffekt der Staatsverschuldung. Da diese arbeitslose Einkommen schaffen (weder der Staat leistet, da er hoch bucht, noch die Bürger, nachdem sie aus Teilen des von ihnen erbrachten BIP zur Besteuerung herangezogen werden) wird nicht gearbeitet und muss auch nicht gearbeitet werden. Das Einkommen aus Staatstiteln verhindert automatisch Einkommen aus Markt-Leistung. Dies ist der eigentliche “Crowding-out”-Effekt der Staatsverschuldung: Je höher diese (und damit die daraus ans Publikum fließenden Einzahlungen), desto sklerotischer wird der Rest der Wirtschaft. Deutlichstes Merkmal: Zunehmende Arbeitslosigkeit zu den von den Arbeitslosen geforderten Löhnen.
9. Das Grundproblem des Staates: Steuern müssen bereits eingehen, bevor Einkommen im Nichtstaatssektor entstehen können (Garantie des Eigentums, Rechtssicherheit, Vollstreckbarkeit, Sanktionen, usw. vgl. “Myth of Ownership”).
10. In der Geschichte finden wir als erstes Abgaben und damit Surplus-Erzwingung (tributär-restributiv), danach Abgaben zu Thesaurierungs-Zwecken und schließlich den ersten “Kreislauf”: Mit Metall wurden Söldner bezahlt (siehe Persien, Kroisos, usw.). Klartext: Der Staat schafft überhaupt erst das Wirtschaften, das über den reinen Subsistenzbedarf hinausgeht.
11. Die vom Staat zu Abgaben Verpflichteten holen zur Gegenbewegung aus: Sie beschaffen sich die Abgabenmittel durch Handel (Fernhandel zuerst!) bzw. das Abgabengut (Bergbau mit Gegenbewegung Bergregalien) bzw. erzwingen vom Staat (Unter-)Eigentumstitel oder sonstige Monopole (Charter, auch für Kapitalgesellschaften mit Haftungsbeschränkung, usw.) oder versuchen an das stets knappe Abgabengut durch Produktivitätssteigerung bei den Waren oder Leistungen zu kommen, mit deren Hilfe das Abgabengut eingetauscht werden kann. Daraus ergibt sich ein prinzipiell inflationärer Trend: Das Abgabengut (“Geld” = “Schuld”) wird entwertet.
12. Dagegen wehrt sich der Staat durch Abgabenerhöhung bzw. durch eine an ein Nominal gebundene Ausgabenpolitik, wobei der Staat also mit etwas bezahlt, was am Material und über den Markt gemessen für wertvoller erklärt wird als es tatsächlich ist (Münzverschlechterung).
13. Den Anstoß zum produktiveren und arbeitsteiligen Wirtschaften lässt der Staat durch einen entscheidenden historischen Fehler ins Leere laufen: Er geht von der Personen- bzw. Objektsteuer (pro Kopf oder pro Einheit Eigentum) zur ertragsabhängigen Besteuerung über (Entstehung von Umsatz- und vor allem progressiver Einkommensteuer). Damit liefert er sich dem wirtschaftlichen Ablauf komplett aus.
14. Der sog. “Zins”, der zunächst “Census” (= Abgabe ist, siehe Wortstamm) wird zum “Wucher” (usura, fenus), sobald erwartete Einzahlungen diskontiert werden. Dazu bedarf es eines sanktionsbewehrten Termins, weshalb der “Kalender” von Bedeutung wird. Bei den Privaten muss der Termin eingehalten werden, wobei es sich zunächst um Abgabentermine handelt und ein entsprechendes Abgabenmittelbeschaffungs-Publikum auftritt (“Juden”). Erfüllen Private ihre Verpflichtung nicht, erfolgt Schuldhaft, Schuldknechtschaft usw., erfüllt der Staat nicht, laufen seine Titel auf Null aus (Venedig).
15. In der privaten Wirtschaft gilt der Grundsatz des Debitismus: Die Vorfinanzierung eines zeitlich früheren Schuldner muss immer durch zusätzliche Nettoneuverschuldung eines zeitlich späteren Schuldners hereingeholt werden. Dies wiederspricht dem Say’schen Theorem und sämtlichen “Gleichgewichtsmodellen” des Mainstreams, erklärt aber durch den auf dem System lastenden Druck, die Schuldendeckungsmittel zu beschaffen (wiederum “Geld”), die kapitalistische “Dynamik”: Der Kapitalismus ist ein Kettenbriefsystem – open end (vgl. Dissertation Stelter, St. Gallen 1991).
16. Durch den Abgang vom Warengeld-Standard (mit Gold waren sowohl der Staat als auch die Notenbank endgültig zu befriedigen) mutierten die Notenbanken vom Lender of last ressort zu Institutionen, die das Steuerzahlungsmittel (= “gesetzliches Zahlungsmittel”, “legal tender”) als Monopolanstalt ausgeben. Das Steuerzahlungsmittel muss immer materiell sein, das Material selbst spielt keine Rolle mehr. Voraussetzung: fälschungssicher. Das System des heutigen GZ bedeutet: Beschaffungszwang bei der Notenbank.
17. Die Notenbank verleiht das GZ gegen eine Steuer (“Leitzins”) unter Hinterlegung von Pfändern (inzwischen fast nur noch Staatstitel). Wir haben also eine Steuer auf dem Steuerzahlungsmittel. Notenbanken vergeben niemals Kredit!
18. Die Notenbank ist auch niemals zu befriedigen, sofern deren “Zins” (Steuer) über Null liegt. Bei unter Null wäre es eine Steuersubvention für die Geschäftspartner der Notenbank (MFIs bzw. Geschäftsbanken). Auch dies wäre eine Möglichkeit, wenn auch mit einer Verteilungs-“Schlagseite”, zu inflationieren.
19. Das GZ dient heute zur Abdeckung von Verbindlichkeiten, sobald deren Termin und damit die Umwandlungspflicht in tägliche Fälligkeit gekommen ist – zunächst gegenüber dem Staat als ursprünglichem Terminsetzer, dann derivativ gegenüber dem gesamten Nichtstaatssektor. Wichtig: Mit GZ wird niemals “gekauft”, sondern es werden immer nur fällige Verbindlichkeiten abgelöst (die durchaus auch aus Kaufkontrakten bzw. Geschäften “Zug um Zug” stammen können).
20. Gekauft wird immer auf Kredit, wann immer der fällig ist oder wird. Der Kredit ist dabei (siehe oben) immer die Diskontierung von späteren Einzahlungen durch einen am ursprünglichen Kontrakt nicht Beteiligten Dritten (Titelzession). Hat jemand keine Einzahlungen in Zukunft zu erwarten, kann er diese auch nicht diskontieren und niemals “Kredit” in monetärer, also täglich fälliger Form erhalten. Zusätzlich werden die Kredite besichert (Pfand), wobei die Notenbank künftige Steuerzahlungen als Pfand nimmt, d.h. Staatspapiere. Das “Geld” (GZ), das die Notenbank herausgibt, ist also letztlich nichts anderes als eine simulierte künftige Steuerzahlung.
21. Bei den Preisen muss zwischen Angebots- und am Markt realisierten Preisen unterschieden werden. Letztere lassen sich nur realisieren, wenn Kaufkontrakte geschlossen werden, immer lautend auf Kredit – wann immer dieser abgelöst wird.
22. Eine Zusammenhang zwischen Preisen und “Geld” (bzw. “Geldmengen” gab es nie und gibt es nicht. Es existiert nur ein Zusammenhang zwischen Preisen und Krediten, die beim Kauf vereinbart wurden, wobei es keine Rolle spielt, wann der Kredit abgelöst wird.
23. Werden Kredite nicht mit Hilfe von vermarktetem BIP und den entsprechenden Zahlungen daraus abgelöst (typisch. “staatliche Ankurbelungsprogramme”, denen keine Steuerabforderungen folgen) kommt es zu Preissteigerungen, was typisch für die 70er Jahre war, als nach dem endgültigen Abgang vom Goldstandard das freie Diskontieren künftiger Steuereinnahmen ermöglicht wurde.
24. Wird diese Form der “Nachfrage” nicht fortgesetzt (da zusätzliche Verschuldung in relativ immer weiter ansteigenden Zinszahlungen und deren “Hochbuchung” sich erschöpfen muss), ergibt sich die typische Disinflation, die immer in einer Finanztitel-Manie enden muss.
25. Nach dem Ende dieser Manie (“irrational exuberance”) setzt über kurz oder lang eine Deflation im realwirtschaftlichen Sektor ein (keine bisher bekannte historische Ausnahme!). Diese hat ihre Ursache im wegfallenden “wealth effect” (Aktien- und Immobilien-Bubbles platzen), der wiederum die Besicherungsbasis für “new credits” zusammenschnurren lässt. Alle Welt fühlt sich “ärmer” und verschuldet sich weniger bzw. kann sich aufgrund gefallener Werte, Preise, Kurse der Besicherungs-Pfänder nicht mehr im früheren Umfang verschulden. Bilderbuchartig schon ab 1990/92 beim Kollaps der japanischen Aktien- und Immobilienspekulation zu beobachten. Dazu kommt on top ein fallendes „Vertrauen“ (Klartext: auf künftige Einzahlungen) bei Verbrauchern und Geschäftsleuten.
26. Nach Kreditexzessen müssen die Preise immer wieder dorthin zurückfallen, wo sie hergekommen sind, was sich ebenfalls aus wiederholter historischer Erfahrung beweist.
27. Kredite werden notleidend, die mit höheren Kursen, Preisen, Werten besichert waren. Sie werden jedoch nicht ausgebucht, um das “Bankensystem” nicht ebenfalls in den Kollaps zu zwingen (Unterschied USA 1930 ff. gegenüber Japan, usw. heute). Die Folge ist jedoch, dass die Kreditvergabe- bzw. Refinanzierungsbasis der Banken die benötigten “new credits” (Greenspan) nicht mehr stemmen kann.
28. Sobald sich die Staatsnachfrage im Hochbuchen erschöpft, versuchen die Notenbanken mit Hilfe von “Geldmengen”-Effekten zu arbeiten. Sie können zusätzliche Liquidität jedoch nur ins System pumpen, indem sie Staatstitel kaufen und deren Kurse weiter in die Höhe treiben bzw. dort halten. So schlägt die daraus entstehende Null-Rendite, die nicht mehr weiter zu senken ist, in das Null-Zins-Phänomen um.
29. Liquidität (tägliche Fälligkeiten bzw. GZ) dient nur noch dazu, Fälligkeiten abzulösen bzw. dazu, gehortet zu werden, da man sich mit der Liquidität keinerlei höhere Einzahlungen in Zukunft mehr versprechen bzw. diese kaufen kann. Fallible oder bereits wackelnde Schuldner können gegen keine Titel, welche auch immer, an diese Liquidität mehr kommen. Die Liquiditätsfalle schnappt zu.
30. Wird mit fallenden Preisen gerechnet, verstärkt sich das Problem, da sich durch das Hinauszögern von Auszahlungen ein “Realzins“ ergibt (Morgen ist alles billiger als heute). Die klassische Deflation beginnt und verstärkt sich automatisch aus sich selbst heraus. Diskussion von “Ausweg”-Vorschlägen (Krugman, Friedman, Bernanke, Koenig, Goodfriend, EZB usw.) und warum sie nichts fruchten werden.