Die Deutschen sind gutgläubige Staatsbürger und lieben die Ruhe. Zufrieden blicken sie auf Reförmchen und den Sozialstaat. Das wird für kommende Herausforderungen nicht reichen.
Was macht eine gute Regierung aus, fragt man sich (nicht nur) in diesen Tagen, die von der Kanzlerin als „Herbst der Entscheidung“ angekündigt waren. Die Wehrpflicht wird abgeschafft und die Steuerbürokratie ein wenig abgebaut. So sieht meisterliche Politik nicht aus. Doch ist es nicht zu kleingeistig, immer wieder der Politik Fantasielosigkeit und Reformunfähigkeit zu unterstellen?
Gefährliche Zufriedenheit: Deutschland ist wie ein alter Hund, der nicht mehr Gassi gehen will
Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die darin einzig Negativismus sehen, jenes zersetzende Gemäkel und Genörgel, das nichts Gutes mehr an allem lasse, das die Kultur und Handlungsspielräume der Politik notorisch verkenne und somit zur Politikverdrossenheit beitrage. Ja, warum unzufrieden sein, wenn doch Deutschland im Vergleich mit den anderen europäischen Krisenländern nachgerade wie ein Fels in der Brandung wirkt?
Niemand geht auf die Straße
Die Exporte brummen, die Wachstumsprognosen überraschen selbst die Wirtschaftsweisen, und die Arbeitslosenzahl hat sich unter drei Millionen eingependelt. Dies mögen die Schicksalstage sein, in denen sich die Zukunft der Europäischen Union entscheidet und mit ihr die des Euro, diesem ungeliebten Kind.
Doch in einem Meer von Krisen ruht der deutsche Michel in sich. Denn auch bei den Bürgern hat sich ein verhaltener Optimismus eingerichtet, der mehr ist als eine vorübergehende Nonchalance. Die Stimmung ist also weiterhin erstaunlich gut.
Und daher ist es ruhig in Deutschland. Niemand geht auf die Straße, weil die Steuern nicht gesenkt werden oder die Bürokratie den Menschen die Nerven und Lebenskraft raubt. Niemand protestiert, weil der Sozialstaat überbordet und die Mitte der Gesellschaft alle Mühsal und Last auf ihren Schultern tragen muss.
Nicht in erster Linie sie, die Arbeitenden und Leistenden, auch wenn sie gering verdienen, sollen gestärkt und motiviert werden, denn ihr Tun lässt Wohlstand und Wachstum gedeihen, sondern all die als arm und schwach Definierten, die mittlerweile einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft ausmachen und weiter wachsen könnten.
Stolz auf die gütige Hand des Sozialstaats
Anhaltend auch das Unverständnis in weiten Kreisen der Gesellschaft bis hinein in die Politik für die Regeln und Bedürfnisse der Wirtschaft und des Unternehmertums. Deren Anteil am Gemeinwohl wird gering geschätzt, eher gelten sie als Gegner und Kräfte, die es einzuhegen und zu kontrollieren gilt.
Aber auf den Sozialstaat sind die Deutschen mächtig stolz. Ihn halten sie für unverzichtbar. Mit ihm verbinden sie Fürsorge, Fairness und auch das allseits beliebte Wort von der Gerechtigkeit, die jedem widerfahren solle. So kommt es immer noch zur großen Verbrüderung von Politik und Bürgern, denn beide romantisieren den Staat und erwarten von ihm die ausgleichende und gütige Hand.
Sie wissen um die Komplexität der Moderne, sehen auch die enormen Wucherungen des Staatsapparates, halten alles aber für unausweichlich, weil sie irrtümlich glauben, ein starker Staat müsse groß sein und somit allgegenwärtig. Die Deutschen und der Staat: ein Kapitel für sich. Nie gab es hier eine staatskritische Bürgerlichkeit wie etwa in Amerika, das sich von Anbeginn an als Land selbstbewusster Bürger definierte, die besser als jeder Staat wüssten, was gut für sie sei. Kein Wunder, dass hier die Steuerfrage zur Gretchenfrage wurde und die Staatsferne zur Bürgerpflicht.
Die Deutschen hingegen lieben die Ruhe. Sie würden wahrscheinlich protestlos noch mehr Steuern zahlen. Mit dieser stillen Reserve spielen Politik und Wirtschaftsweise, die schon eine Nichterhöhung der Steuern und Abgaben als wegweisende Tat preisen oder sich nun wegen der kleinen Entbürokratisierung in Steuerfragen auf die Schulter klopfen.
Und so sind die Deutschen sogar mehrheitlich gegen Steuersenkungen, weil sie der eingleisigen und wirtschaftsfernen Politik Glauben schenken, man müsse erst die Schulden abbauen, bevor man sich mit anderen Dingen beschäftigen könne. Wie hat Peer Steinbrück einmal so unverblümt wie entlarvend gesagt: Es gibt keine Ausgabenseite, sondern nur eine Einnahmenseite.
Den demokratiepraktischen Aspekt der Steuerfrage sehen die meisten Bürger nicht, denn Steuerstaat und Zivilgesellschaft passen nicht recht zusammen. Die Deutschen aber sind gutgläubige Staatsbürger. Sie verharren in dieser vormodernen Attitüde.
Die trägen Parteien bleiben der politische Resonanzkörper
Und auch wenn die Eruptionen um die Schulform in Hamburg und Stuttgart 21 überraschend waren, so kann man davon ausgehen, dass hierzulande die Zufriedenheit mit dem parlamentarischen System ungebrochen hoch ist. Das wird das Marathonjahr der Landtagswahlen 2011 beweisen. Immer noch sind die trägen Parteien die Klangkörper politischer Kultur, sosehr sich die Vertreter der Internet-Kultur auch bemühen, eigene Resonanzräume zu finden.
Deutschland und seine Politik sind also erstaunlich stabil, aber alles wirkt leer und verbraucht. Vom Bild her denkt man an einen großen alten Hund, der zu viel Fett ansetzte und nun träge vor dem Ofen liegt, statt Gassi zu gehen und an allen Ecken und Enden zu schnüffeln.
Man könnte sogar von einer gewissen Schizophrenie sprechen. Denn zu Stabilität und Sicherheit gehören umgekehrt auch Beweglichkeit und Innovation. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu, sagte Wolf Biermann einst so treffend.
Wie lange aber noch wird man hierzulande dem Umverteilungsstaat folgen? Wie lange noch glauben, er allein könne „alternativlos“ (vielleicht das Wort des Jahres 2010) für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich sorgen? Wie lange noch ignorieren, dass auch nur das ausgegeben werden kann, was eingenommen, das heißt erwirtschaftet wurde? Wie lange noch denken, alle Unterschiede zwischen den Menschen seien des Teufels und ein Ausweis von Diskriminierung?
Die Kraft der Freiheit scheint erloschen
Gerade der jüngste Pisa-Test zeigte, was gewollt wird: Exzellenz wird in der Bildung bekämpft, es zählt einzig die Angleichung von unten an die Mitte, was immer auch ein Akt der Nivellierung ist. Deutscher Einheitsbrei.
Es gibt ein Wort, dessen Kraft nahezu erloschen ist: Freiheit. Spricht man von der Entscheidungsfreiheit der Bürger, so erntet man oft ein müdes Lächeln, als sei man nicht ganz bei Trost. Die Deutschen ruhen sich aus in der Komplexität der Gegenwart, statt von der Politik und sich selbst Klarheit und auch Mut für die Zukunft zu verlangen. So wie die Kanzlerin wartet man lieber ab. Gutes Regieren aber heißt glänzen wollen. Das haben die Deutschen offenbar verlernt. [Quelle: Welt Online]
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Die Deutschen sind wie träge, fette, alte Hunde – selten habe ich eine bessere Charakterisierung gelesen! Sie stimmt auf den Punkt genau! Wer genau hinsieht und vielleicht auch noch versucht aufzuklären und die Reaktionen erlebt, der kann hier nur uneingeschränkt zustimmen. Solange den Deutschen niemand kräftig auf die Füße tritt, ihnen ihre Ruhe und ihren (eingebildeten) Wohlstand wegnimmt – solange pennen diese Hündchen weiter. Aber wehe die Hunde wachen auf – dann ist der Teufel los und ich gehe in Deckung. Denn dann werden die Langschläfer rabiat und tollwütig. Es ist allemal besser, in solchen Zeiten den Kopf unten zu lassen und abzuwarten, bis sie sich gegenseitig abgeschlachtet haben.
„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.” (Jean-Claude Juncker erklärt seinen EU-Kollegen die Demokratie – SPIEGEL 52/1999)
Warum kann Juncker so etwas sagen und tun – und niemanden juckt das?
Antwort: weil es niemand wissen will – weil es niemand glaubt, weil jeder nur seine Ruhe haben will.
„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.” (Jean-Claude Juncker erklärt seinen EU-Kollegen die Demokratie – SPIEGEL 52/1999)
Warum kann Juncker so etwas sagen und tun – und niemanden juckt das?
Antwort: weil es niemand wissen will – weil es niemand glaubt, weil jeder nur seine Ruhe haben will.